Buchempfehlung

Pflanzenwelt der gotischen Kathedralen

Eine Buchempfehlung unseres Mitglieds Dr. Michael Paulitzsch

Die Pflanzenwelt der gotischen Kathedralen. Von FRANK RICHTER.

Michael Imhof Verlag. Petersberg 2019. 352 Seiten, 1206 teilweise ganzseitige Abbildungen, 24,5 x 31 cm. ISBN 978-3-7319-0853-1. 128 Euro

Die gotischen Kathedralen sind mit einer überwältigenden Fülle von oft überlebensgroßen Bildwerken an den Säulen, Blendwerken und Portalen geschmückt. Erst bei genauerem Hinse-hen erschließt sich die Vielfalt von steinernen Pflanzendarstellungen, die in ihrer Feingliedrig-keit und Genauigkeit erstaunen und faszinieren. In dem Maße wie die Bauhütten sich der Na-tur zugewendet haben, begannen sich Steinmetze zu spezialisieren, wurden Laubhauer ge-nannt und meißelten Pflanzen. Pflanzen mit heilenden Wirkungen gewannen neben Pflanzen aus der Bibel oder Marienpflanzen zunehmend an Bedeutung. Giftigen Pflanzen, die das Böse abwehrende Funktion zuerkannt wurden, sind an fast allen gotischen Kirchen anzutreffen und ersetzen dort die entsprechenden tierischen Darstellungen an romanischen Kirchen.

Es ist das Verdienst von FRANK RICHTER die Sisyphusarbeit der Bestandsaufnahme und Do-kumentation durch hervorragende Fotos zuerst an sächsischen Kirchen und danach an den großen Kathedralen im Norden Frankreichs durchgeführt und in diesem eindrucksvollen, fast monumentalen Buch interpretiert und veröffentlicht zu haben. Angeregt durch seine berufli-che Tätigkeit für den Nationalpark Sächsische Schweiz, begann er mit der Analyse der Pflan-zen am Naumburger Dom.

Die frühen französischen Kathedralen (zwischen 1220 und 1270) Noyon, Laon (deren Türme Vorbilder für die Bamberger und Naumburger Westtürme waren), Notre-Dame von Paris und von Soissons werden danach analysiert ebenso wie die klassische Kathedrale von Chartres, die ehemalige Königskathedrale Notre-Dame von Reims und die Kathedrale in Amiens, ohne die der Chor des Kölner Domes nicht denkbar wäre.

Mit dem Bau der lothringischen Kathedrale in Toul (1221) breiteten sich die steinernen Pflan-zen in die Kirchen des Heiligen Römischen Reiches in die heute deutschen Kirchen von Trier (1235) und die Elisabethkirche in Marburg (auch 1235) aus. Das Marienportal und das Elisa-beth-Mausoleum in Marburg sind mit einer großen Zahl von Heilpflanzenblättern ge-schmückt, die wohl auf das Wirken Elisabeths für Kranke und Bedürftige verweisen sollen. Der Lettner im St. Martin Dom in Mainz erhielt ausgeprägten Pflanzenschmuck (1239). In der klei-nen Templerkapelle von Hof Iben (ca. 1250) in der Nähe von Mainz sind 25 Kapitelle mit pflanzlichen Motiven zu finden, darunter Christrosen. In der Marienkirche von Gelnhausen ist der Lettner (nach 1240) mit Beifuss, Eiche, Lilie und Rose sowie mit einem Weinlaubkapitell mit pickenden Vögeln geschmückt. Die Kölner Dombauhütte trägt zur Ausbreitung solcher Steinmetzarbeiten in Deutschland bei. Anhand der Zeichen der Steinmetze kann er deren Reisewege zu den verschiedenen Arbeitsorten nachweisen. Diese entfalten sich in den Domen von Magdeburg, Halberstadt oder Paderborn. Herausragend sind die Arbeiten am Straßbur-ger Münster, die die Freiburger Portalvorhalle und das Westportal des Baseler Münsters be-einflussen.

Die Ausbreitung der Pflanzen bis in die Backsteingotik und nach Schlesien wird an den Kapel-len, Kirchen oder Domen in Breslau, Löwenberg, Stralsund sowie am Münster in Doberan (1297) erläutert. Man könnte meinen, die Bauherren der Kirchen hoben die Ansprüche an die Steinmetze für die Dekoration von Kapitellen, Portalen oder Lettnern an, aus der Erkenntnis des Bernhard von Clairvaux: „… wo mehr an Reichtümern gesehen wird, wird auch williger gegeben“ ( Zitat von S.27 dieses Buches).

Im Meißner Dom und auch in Auxerre verlieren die Pflanzen ihre Individualität und sind in der Marienkirche in Pirna und am Freiberger Dom – z. B. die Tulpenkanzel mit Aloeblättern (1508-1510) nur noch gering vertreten.

Von allen Kirchen werden die Grundrisse gezeigt und teilweise auch zum leichteren Auffinden die Pflanzendarstellungen farblich eingetragen.

Aus der Antike wurden in die gotische Vielfalt der Akanthus, die Palme und der Aronstab übernommen. RICHTER erkennt 60 Pflanzen, die als Blätter, Früchte oder Blüten in Stein ge-meißelt wurden. Erwartungsgemäß sind unter den dreizehn häufigsten Eicheln, Weintrauben, Feigen und Hopfen zu finden; dazu Beifuß, Hahnenfuß (Ranunculus repens und R. acris), Efeu, Leberblümchen, Feldahorn, Rose (Rosa caina und R. gallica), Zaunrübe (Bryonia alba und Bryonia dioica) und Leberblümchen. Die Feinheit der Steinmetzarbeiten ermöglicht es sogar beispielsweise die fünflappigen Blätter von Sanicula europea und Acer campestre zu unter-scheiden.

Ein umfangreiches Glossar, Pflanzenregister und Literaturverzeichnis ermöglichen eine Vertie-fung des Wissens.

FRANK RICHTER ist mit seinem Buch ein photographischer, analysierend- erklärender und botanischer Leckerbissen gelungen. Aus der hochwertigen Ausstattung entwickelt sich natur-gemäß ein stolzer Preis. Wer sich das Buch nicht selbst schenken will, sollte sich zum Geburts-tag, Weihnachten oder Jubiläum damit überraschen lassen.

MICHAEL PAULITSCH, Warendorf

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